Mauerweglauf — Teil 3

Schon gegen 21 Uhr ist es dunkel, und jetzt verlassen wir die Spaßzone. Es wird merklich kühler und im Schein der Stirnlampe ist Nieselregen zu sehen. Im Wald sind die Wege aufgeweicht. An dieser Stelle möchte ich einmal zum Mauerweg referieren: Der Dichtung nach handelt es sich beim Mauerweg um einen „asphaltierten Radweg“, der durchgehend gut ausgebaut und ausgeschildert ist. Letzteres stimmt. Die Mauerwegschilder sind in einer Höhe von 3,80 Metern angebracht, so hoch war damals die Mauer. Das ist eindrücklich. Je mehr wir in die Einsamkeit laufen, desto drohender und präsenter wird der Gedanke an die Mauer. Am Streckenverlauf selbst ist meist nicht viel zu erkennen, jedoch herrscht hier eindeutig eine ungute Atmosphäre. Die Wege sind größtenteils so schlecht, dass ich darauf keine 5 km radeln wollte. Das erklärt vielleicht auch, warum der konzeptionell gut durchdachte und kulturhistorisch wertvolle Radweg von den Berlinern nicht wirklich angenommen wird. Teilweise ist der Weg auch von wilden Müllhalden gesäumt.

gü-8 gü-9 gü-10 Besonders bedrückend sind die originalen Kolonnenwege im Wald, auf denen seinerzeit die Militärfahrzeuge verkehrten. Es sind richtige Panzerstraßen, aber sehr schmal. Auf den Pavés zu laufen ist quasi die Hölle, vollends wenn sie nass sind. Bodenwellen und Löcher sind überall. Die Wegmarkierung der Veranstaltung ist exzellent, neben den bisherigen Richtungspfeilen gibt es nun auch blaue Leuchtmarkierungen an Bäumen und Flatterband. Nicht üppig, aber ausreichend. Wir haben wohl auch Glück, dass bei dem Wetter keine Übermütigen unterwegs sind, die die Markierungen manipulieren.

Irgendwo bei km 110 erfahren wir, dass der Sieger Mark Perkins die Strecke in 13 Stunden und 6 Minuten bewältigt hat – eine sensationelle Zeit, da fällt einem nix mehr ein. Das reicht noch für eine Dusche vor dem Abendessen, und dann kann er zufrieden mit des Tages Werk einem seligen Schlummer frönen. Wir sind inzwischen über 15 Stunden unterwegs. Weitere 11 liegen vor mir…

Ich freue mich, wie gut ich über die ersten 100 km gekommen bin, und wie zuversichtlich ich noch bin. Der Check der wichtigsten Lebensparameter lässt mich ganz stark vermuten, dass ich die Distanz schaffen werde. Dass es weder ein Kindergeburtstag noch eine Demonstration läuferischer Klasse werden würde, das war mir klar. So ungefähr bei km 115/120 spüre ich dann auch, dass jetzt die Ermüdung ganz stark einsetzt. Die Nacht schlägt zu. Ich brauche längere Pausen an den VPs und beginne, die Kilometer zwischen den Stopps am Piepen mitzuzählen. Ich bin müde und erschöpft. Beides zum Glück nur im normalen Bereich. Ein Marathönle geht immer. Nie war der doofe alte Spruch so wahr wie hier bei km 120… Ich hab noch so viel Reserve, dass ich damit wirtschaften kann, und meine Kraft wird reichen. Der Rest ist harte Arbeit, aber ich werde es schaffen. Das weiß ich.

Seit Einbruch der Dunkelheit versuche ich, in der Nähe anderer Läufer zu bleiben. Immer wieder treffe ich ein Pärchen von der LG Mauerweg, sie gehen und laufen im Wechsel. Leider laufen sie zu schnell für mich, aber in ihren Gehpausen kann ich sie wieder einholen. Ich frage ihn, ob wir bald aus diesem Wald draußen sind, und er verspricht es. Stimmt aber leider nicht. Immer wieder tauchen Stelen mit Fotografien einzelner Maueropfer aus dem Dunkel auf. Kinder sind das da auf den Bildern, ganz ganz junge Menschen. Vor den Stelen liegen frische Kränze. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich diese Menschen bei ihren Fluchtversuchen wohl gefühlt haben. Was hatten sie sich vom Westen erhofft, um dafür ihr Leben zu riskieren? Es ist nicht die nur Gegenwart der Toten bzw. vielmehr der Geschichte, die diesen Lauf gruselig macht, sondern auch die Tiefe und Finsternis der Nacht. Bei keinem meiner bisherigen Nachtläufe habe ich mich SO gegruselt.

Irgendwann hole ich Thorsten ein, der bereits nur noch geht, das aber in einer affenartigen Geschwindigkeit. Ich versuche eine erste Gehpause, kann sein Tempo aber nicht mithalten. Wir sind so ungefähr bei km 125 und  ich merke, dass ich ab jetzt nicht mehr alles rennen kann. Als Thorsten gerade vielleicht 150 Meter vor mir ist, höre ich keinen Meter neben mir aus einem Gebüsch ein aggressives Schnauben, keineswegs aus Bodennähe. Gleich darauf nochmal. Das muss der größte Keiler sein, den dieser Wald zu bieten hat. Und er hat hier auf mich gewartet, um mich zu fressen. Ich renne um mein Leben und erkläre Thorsten atemlos, dass ich keinen weiteren Meter mehr allein durch irgendwelchen Wald laufen werde. Zum Glück grinst der bloß.

Kurz darauf erreichen wir die VP an km 128, am Ruderclub. Das erste was ich sehe ist eine auch nicht mehr ganz so frische Braut in den letzten Zügen ihrer Hochzeitsfeier. Das wäre jetzt was für den Joe Kelbel. Nebenan ist ein fürchterlich schrammeliges Death-Metal-Konzert oder sowas. Auf diesem Erschöpfungslevel ohrentechnisch nicht mehr auszuhalten. Es gibt Kaffee 🙂 Und den dritten Verpflegungsbeutel. Widerwillig esse ich all das auf, was ich mir vorgenommen habe. Das muss jetzt einfach sein, damit ich nicht schlappmache. Hätte ich mir das vorneweg nicht ganz genau eingebleut und verinnerlicht, dann hätt ich hier garantiert einen Fehler gemacht. Von ESSEN willst Du in dem Moment nämlich einfach nix mehr wissen, es interessiert schlicht nicht mehr. Du denkst, essen sei überflüssig – ist es aber nicht.

Jetzt sind es nur noch 34 km und wer jetzt glaubt, der Rest wäre nur noch ein kleiner Trainingslauf auf einer Backe, der irrt gewaltig. Thorsten hat Langeweile und Waldkoller, und deshalb hat er nichts dagegen, mit mir zu laufen, auch wenn ich ihn ausbremse. Die Vorstellung, die nächsten 34 km nur noch zu gehen, das ist für mich der blanke Horror. Zweimal um den Blauen Weg, GEHEN… Geht gar nicht. Ich fahre schon zum Zigarettenautomaten mit dem Auto. Aber wenn wir laufen, ist Thorsten viel zu schnell für mich. Und ohne ihn laufe ich hier keinen Meter weiter, ich will nicht gefressen werden. Axel hat an der Station sogar erzählt, dass ihm der Keiler ein Stück im Gebüsch gefolgt ist… Immer noch warte ich auf Gunther und Steff – wo sind die bloß? (Sie müssen langsamer machen, weil es bei Gunther irgendwo zwackt, und sie werden noch 2 ganze Stunden länger unterwegs sein als ich.)

Kilometermäßig kommt jetzt der Abschnitt, von dem ich berichten müsste, wie der Geist den Körper verlässt und neben mir herschwebt, wie ich Zeit und Raum durchbreche und von selbst laufe oder wie Dinge geschehen, die außerhalb der Wirklichkeit liegen und die man sich nicht vorstellen kann. Das Unfassbare eben, das viel zitierte mystische Geschehen hinter Kilometer Hundert, von dem so viele ehrfurchtsvoll flüstern, einem spirituellen Ritus gleichend. Dass ich meinen Körper und mein ICH erfahre, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, dass ich den Schmerz überwinde, und dass nun etwas Bewusstseinsveränderndes eintritt, das mich für die Reihen der wahren, echten Ultraläufer qualifiziert, dass ich das Licht sehen werde. Mal ehrlich, auf sonnen Humbug kann ich grad jetzt besonders gut verzichten und halte mich da ohnehin für komplett resistent. — Und siehe da: es passiert. Nämlich nix. Alles Kackerlatz. Noch befinde ich mich meilenweit entfernt von solchen Delirien, sondern bin einfach nur müde. Wird man ja wohl auch sein dürfen um die Uhrzeit. Dass Fußsohlen irgendwann brennen halte ich bei solchen Distanzen auch für völlig logisch, und einen anderen Schmerz, den es auf wundersame Weise zu überwinden gälte, kann ich halt einfach nicht bieten. Mannomann, ich glaub das wird nix mehr mit mir und dem Ultraläufer…

Also hatschen wir von VP zu VP, verstehen die Welt und den Wald nicht mehr und schwören uns gegenseitig, dass wir hier nie nie nie wieder herkommen. Auf der Karte habe ich gesehen, dass wir ab jetzt eigentlich immer wieder Vororte zumindest streifen müssten. Aber nur ganz selten kommen wir ein Stück durch einen Ort. Um diese Uhrzeit ist das natürlich auch nicht grad unterhaltsam. Ich fühle mich wie mit 16, als hätten wir nach der Disco den letzten Bus verpasst – nur schlechter gekleidet… elefantös große  Warnweste und Grubenlampe, ja, die Mode ändert sich… Irgendwann überholt uns der KLaus, der Klaus heißt und dem es gut geht. Er hat ein paar Leute im Schlepp, ich traue mich aber nicht zu fragen, ob wir uns anschließen dürfen. Hätt ich machen sollen. Grace schließt auch von hinten auf, sie werden wir bis zum Zieleinlauf immer wieder treffen.

Von der Zielzeit von 24 Stunden habe ich mich am Wildschwein verabschiedet. Mir ist egal wie lange ich noch brauche, Hauptsache ich bin nicht alleine. Mittlerweile legen wir 5 Kilometer in der Stunde zurück. Das kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen. Die langen Verpflegungspausen dazu gerechnet, kommt es aber schon hin. Wir haben unsere sieben Zwetschgen noch beisammen, und wir gehen immer noch schnell, aber es wird trotzdem nicht weniger. Thorsten und ich funktionieren wie ein altes Ehepaar, was mich sehr amüsiert. Wir gehören beide nur als Gast zu diesem Zirkus, und das ist es, was ihn für mich zum optimalen Begleiter macht. Den üblichen Ultra-Talk würde ich jetzt nicht ertragen können. Womit ich jetzt niemandem zu nahe treten möchte, alles hat seine Berechtigung und ist ok, aber für mich passt das halt einfach nicht.

Wie öde und zäh diese letzten 35 km sind, das kann ich überhaupt nicht beschreiben. Aber mit jedem Schritt werden sie weniger, und wir bringen das jetzt zuende. Bei km 150 ist ein Läufer, der aussteigen möchte. Ich bewundere ihn für diese Entscheidung und rede ihm zu, dass das ok ist. Im Sitzen macht er einen guten Eindruck, doch als er aufsteht merke ich, dass er wirklich gar nicht mehr kann. Ein Mädchen, das ich noch von den ersten Kilometern kenne, hat ebenfalls schwere Probleme, wird aber irgendwie durchkommen. Ich bin einfach nur froh, dass es mir so gut geht.

Als es hell wird, sind wir schon wieder in Stadtnähe. Der letzte Streckenabschnitt ist besonders hässlich, denn hier ist es einfach nur schmutzig und verkommen. Umso netter werden wir an den VPs empfangen. Das Angebot ist immer noch so reichhaltig wie zu Beginn des Laufs. Die letzten beiden Kilometer verbringen wir mit den Patrouillenradlern. Einer von ihnen hat bereits den Sieger ins Ziel begleitet und war dann noch die ganze Nacht auf dem Rad unterwegs. Er erzählt mir noch ein paar spannde Dinge, so dass die Zeit schnell vergeht. Den letzten Kilometer rennen wir, um unter 26 Stunden zu bleiben. Das geht erstaunlich gut.

Auf der Zielgeraden habe ich nichts im Kopf. Ich freue mich einfach nur, dass ich es so ohne Schwierigkeiten geschafft habe. So wollte ich das. Auf einmal bin ich gar nicht mehr müde, und auch die großen Gefühlsanwandlungen bleiben zum Glück aus. Hier war der Start, hier ist das Ziel, und dort biste gelaufen. Fertig.

Ergebnisse

Im Hotel wartet der gute Gerhard schon auf mich und freut sich herzlich, dass ich es geschafft habe. Er selbst musste bei Halbzeit raus, nimmt es aber gelassen. Ich darf bei ihm duschen und mich ausruhen, wir lästern uns noch einmal kreuz und quer durchs Läuferfeld und über die Strecke, und später wackeln wir zusammen zur Siegerehrung. Gerhard, danke, das war richtig schön 🙂

und ja: „hier gehe ich niemals wieder her“ hat keine 24 Stunden gehalten. Aber nächstes Jahr möchte ich für die Nacht einen Radler haben. Falls dies jemand liest, der sich das vorstellen kann, oder jemanden kennt … bitte dringend melden 🙂

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14 Antworten zu Mauerweglauf — Teil 3

  1. Din schreibt:

    Hallöchen. Ich habe mich gerade durch deine Mauerwegbeschreibung gelesen. Zunächst erst einmal herzlichen Glückwunsch zu dieser unfassbaren Leistung. Dieser unglaublich lange Weg, den ich nicht einmal beim Radtraining bewältigen mag. Wunderbar zusammengefasst und sehr faszinierend zu lesen.

    Du warst hier. Also quasi ums Eck. Am Morgen haben ich auf dem Weg zu meinem Schwimmtraining einige von euch gesehen. Hätte ich das gewusst, wäre ich zur nahen VP gekommen und hätte hüpfend gejubelt. Ich hoffe, du konntest dich schon wieder erholen.

    • Kati schreibt:

      Hallo Din – wie SCHADE, das hätten wir vorher wissen müssen. Aber vielleicht nächstes Jahr? Danke, es geht mir sehr gut, bin nur immer noch ein bißchen müde. Übrigens, auf dem Rad würde ich das auch nicht schaffen 🙂 viele Grüße, Kati

  2. Hi Kati,
    noch mal herzliche Gratulation und höchsten Respekt vor Deiner Leistung. Dein Bericht ist sehr beeindruckend. Allerdings frage ich mich die ganze Zeit, warum Du mit dem Auto zum Zigarettenautomaten fährst … Da kommt ja mein ganzes Weltbild ins Wanken …:-)
    Alles Gute für den APM!
    der Frankenblitz

    • Kati schreibt:

      ich muss Dich leider weiterhin im Ungewissen lassen….

      • Volker schreibt:

        :-)………..Ab sofort bist du für mich nicht mehr die Nase, nö du bist einfach die Supernase! Ich stell mir gerade vor, wie ich dich als Begleitradler stehen lasse, wenn der Keuler grunzt 😉

        Klasse Bericht zum unglaublichen Erlebnis!

        Liebe Grüße,
        Volker

  3. Kati schreibt:

    danke mein Bester 🙂 Ja, bei der Wahl meines Fahrradbegleiters werde ich Umsicht walten lassen. Wobei, so schnell wie ich auf dem Gepäckträger gehockt wär… vielleicht würde sich für die Keiler-Flucht auch ein Tandem anbieten?

  4. binoho schreibt:

    Hallo Kati,
    ich bin irre beeindruckt von so einer Leistung und habe gerade den tollen Bericht verschlungen. Selber habe ich ja schon schon Probleme mich an alle Gegebenheiten nach einem M zu erinnern. Zum trainieren kannst Du ja demnächst nur noch nachts zum Automaten laufen und dich mit dem Rad begleiten lassen 🙂
    Gruß, Norbert

  5. Radelnder Ritter schreibt:

    Höchsten Respekt vor dieser Leistung, Kati! Große Klasse und herzlichen Glückwunsch dazu! Der Bericht ist eine exquisite Mischung aus Homers „Odyssee“ und Tolkiens „Herr der Ringe“, sehr gelungen. 🙂
    Falls die Bewerbungsfrist für den Posten als Begleitradler noch nicht abgelaufen ist, würde ich doch glatt meinen Helm in den Ring werfen…..wenn ich denn nicht selbst zum Mauerwegläufer werde…..Keiler hin, Keule her 😉

    Viele Grüße,

    RR

    • Kati schreibt:

      Begleitradler Deluxe, den Job hättest Du 🙂 Nur kann ich mir Dich nicht leisten, es sei denn, Du könntest Dich beamen 🙂 Oder radelst gleich hin 🙂

  6. Theo schreibt:

    Hallo Kati, die Kommentare haben bereits alles gesagt, ich will keinen Superlativ mehr ergänzen. Respekt vor dieser Leistung! Die ernste Kati auf den Bildern im Teil1 ist mir auch sehr sympathisch.
    Was den Begleitradler betrifft, so solltest Du nur solche mit Jagdschein und Gewehr nehmen! LG Theo

  7. Thorsten Raulfs schreibt:

    Hallo Kati .
    Super kommentiert , auch das wir in dieser Nacht sagten das wir diesen Lauf nie nie nie wieder laufen würden . wie heißt es ? sag Niemals NIE . Niemand hat vor 100meilen zu Laufen
    es hat 3 Tage gedauert da war ich schon wieder Feuer und Flamme und warte nur auf den 3 Oktober 😉 Ich bin wieder Dabei LG Thorsten 🙂

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